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Die Kraft von Parallelsystemen nutzen

Manchmal sind die gelebte Kultur und die gewachsenen Regeln einer Organisation so streng gestrickt, dass notwendige Erneuerungen überhaupt keine Chance haben.

Jegliche Bewegungsfreiheit, die notwendig wäre, um innovativ werden zu können, wird im Keim erstickt. In solchen Fällen kann es sinnvoller sein, Parallelsysteme zu installieren, als das Bestehende aufzubrechen. Es würde zu lange dauern, das Erstarrte in Bewegung zu bringen, um die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und es könnte das Unternehmen sogar gefährden. Daher wird neben der Muttergesellschaft eine zweite Organisation, ein Parallelsystem, mit klaren Aufgaben etabliert. Diese neue Organisation muss nicht zwangsläufig eine eigene Rechtsform haben, es kann auch ein Team sein, das direkt an das Top-Management berichtet und ganz bewusst vom restlichen System getrennt wird. Entscheidend ist die Distanz, die zur bestehenden Organisation aufgebaut wird.

Der Grund für solche Distanzen ist einfach: Radikale Innovationen lassen sich in Parallelsystemen eher realisieren als in der Logik bestehender Systeme, denn die bestehenden Systeme müssen die gegenwärtigen Kundenbedürfnisse erfüllen. Für Experimente bleibt da nicht viel Zeit.

Der Grad der Distanz lässt sich variieren und die Bandbreite ist groß: Autonome Teams erhalten für bestimmte Aufgaben in der Organisation Freiräume, die für andere Bereiche nicht gelten. Innovation-Labs sind Experimentierräume abseits des Kerngeschäfts, in denen Zukunftsideen und Prototypen entwickelt werden. Sie unterscheiden sich in ihrer spielerischen, bunteren Ausstattung von üblichen Arbeitsräumen. • Wenn Technologiekonzerne bewusst Start-up-Unternehmen kaufen, suchen sie damit gezielt nach neuen, innovativen Ideen und Zugängen. • Andere Unternehmen leisten sich bewusst ein echtes Parallelsystem im Kerngeschäft, um mit radikaleren Ideen zu Produkten und Geschäftsmodellen zu experimentieren, um zu forschen, aber auch um bereits konkrete Geschäfte abzuwickeln.

Wie werden Parallelsysteme angelegt? Eine wichtige Voraussetzung ist, dass möglichst keine Regeln und Muster der ursprünglichen Organisation übernommen werden. Daher werden diese Teams oft mit neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt, um völlig andere Perspektiven zu gewinnen. Für sie wird ein möglichst offener Handlungsrahmen definiert, es werden frei verfügbare Ressourcen zur Verfügung gestellt und eigenständige Messsysteme eingerichtet, aber auf das Reporting zu den Zentralbereichen wie etwa das Controlling wird verzichtet. Das Risiko wird begrenzt, indem ein finanzieller Rahmen vereinbart wird, der dem Parallelsystem zur Verfügung steht. Die vereinfachte Formel lautet: Es gelten die staatlichen Gesetze, nicht aber die Regeln des Konzerns. Das Parallelsystem benötigt diese Distanz, um das Neue wirklich tun zu können, gleichzeitig aber auch eine ausreichende Nähe, um bei Erfolgen die Neuerungen innerhalb der Muttergesellschaft etablieren zu können. Die folgenden zwei Beispiele einer Flughafengesellschaft und eines staatsnahen Unternehmens illustrieren das.

Innovation-Lab in einem Flughafen Die Innovationsmeetings der Flughafengesellschaft fanden im biederen Besprechungszimmer statt. Trotz konsequenter monatlicher Sitzungen kam keine Stimmung auf, neue Ideen entstanden spärlich. Schien einmal eine Idee interessant zu sein, war sie beim nächsten Meeting auch schon wieder vergessen. Also schlugen meine Kollegen und ich vor, für die Innovationsmeetings einen eigenen Raum zu nutzen und diesen entsprechend einzurichten. Ein „Innovation-Lab“ sollte entstehen. Der Raum wurde bewusst abseits des Tagesbetriebs ausgewählt und neu möbliert, und zwar völlig anders als die üblichen Meetingräume: Es gab Sitzsäcke, Begegnungszonen, Liegestühle … Selbstverständlich fehlte es nicht am nötigen technischen Equipment, um Experimente zum Thema Digitalisierung voranzutreiben. Besonders wichtig war, dass die Ideen und Themen, an denen gearbeitet wurde, im Raum sichtbar bleiben konnten. Das visuelle Management der Ideen auf Postern und Plakaten, auf Flipcharts und Pinnwänden, ermöglichte, immer wieder an die Themen anzuschließen. Im Innovation-Lab gelang es, einige interessante Ideen bis zur Projektreife weiter zu verfolgen. So wurde der Passagierfluss im Terminal neu organisiert und eine App entwickelt, um einen Stammparkplatz im Parkhaus reservieren zu können. Der freie und offene Zugang zu High-Speed-Internet im gesamten Terminalbereich wurde vorbereitet, mehrere Customer Journeys durch den Flughafen wurden durchgeführt und die Ergebnisse ausgewertet. Das Innovation-Lab als Struktur ermöglichte die neuen Wege und Zugänge.

Das Parallelsystem als Impuls für die Unternehmensentwicklung Wir wurden als Unterstützung in ein staatsnahes, rechtlich selbstständiges Unternehmen mit etwa 1.000 Mitarbeiterinnern und Mitarbeitern gerufen. Im Auftrag der neuen Geschäftsführung gestalteten wir einen Workshop mit dem Managementteam, aber es war für uns mühsam und frustrierend. Inhaltliche Auseinandersetzungen mit den strategischen Themen wurden als völlig unbedeutend empfunden. Wichtig war, dass freitags zu Mittag Schluss war. Ein Teilnehmer sagte: „Es ist egal, ob wir ein bisschen besser oder kundenorientierter werden, ob wir ein besseres oder schlechteres Ergebnis erzielen. Wir sind Teil des Staatshaushalts. Da spielt das keine Rolle.“ Zusätzlich war die Aufbauorganisation extrem funktional strukturiert und von Bereichsdenken geprägt. Eine Kundenbefragung ergab zwei große Themen: Erstens waren die Leistungen im Vergleich zu privaten Unternehmen deutlich zu teuer und zweitens dauerten die Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse zu lange. Mit dem üblichen Repertoire der Organisationsentwicklung war nichts zu verändern. Zu starr waren die Regeln, zu gering die Bereitschaft, irgendetwas konstruktiv zu bewegen oder zu verbessern. Mit der Geschäftsführung beschlossen wir, eine Parallelorganisation zu etablieren: Mit Zustimmung des zuständigen Ministers wurden 25 Prozent des Geschäftsvolumens in eine neue Gesellschaft verlagert, die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Führungskräfte wurde neu akquiriert. Das neue Unternehmen wurde ein unabhängiges Unternehmen im Gesamtkonzern, es entwickelte eine eigene Kultur, eigene Ressourcen, eigene Kennzahlen und ignorierte die alten Gepflogenheiten. Die Zentralfunktionen und Supportbereiche blieben im Mutterunternehmen. Von dort musste die neue Gesellschaft noch zwei Jahre lang Dienstleistungen beziehen, danach durfte sie alles am Markt zukaufen. Dazu kam es aber nie: Die Etablierung des Parallelsystems hatte im Mutterunternehmen eine neue Kultur angestoßen und die Veränderungsbereitschaft angeregt. Der bewusst geschaffene Wettbewerb, die Sorge, Aufträge zu verlieren und ein neues Selbstverständnis hatten die Voraussetzung geschaffen. In der alten Organisation wurden die funktionalen Strukturen aufgeweicht, eine Prozessorganisation eingeführt und das Verhalten bewusster auf den Kunden ausgerichtet. Jetzt, einige Jahre danach, ist die alte Organisation in ihrer unternehmerischen Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit mit der neuen Organisation vergleichbar.

Dieser Artikel wurde entnommen aus: Weiss, Mario (Hrsg.) (2016): Handlungskompetenz Innovation. Zugänge und Methoden für radikale Sprünge und Innovations-Managementsysteme. Bern: Haupt


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